Reden in der Regionsversammlung am 14.07.2020: Situation von Kindern und Eltern unter Pandemiebedingungen

  • Veröffentlicht am: 17. Juli 2020 - 8:48

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Evrim Camuz
Evrim Camuz, Foto: Sven Brauers © Grüne Hannover

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Sinja Münzberg
Sinja Münzberg, Foto: Sven Brauers

 

Regionsversammlung am 14.07.2020

Reden von Evrim Camuz und Sinja Münzberg zum Grünen Antrag "Hygienekonzepte für Kitas und Schulen" (Ant 3442) / TOP 53

 

 

Rede von Evrim Camuz:

 

- ES GILT DAS GESPROCHENE WORT -



 

Wir fordern die Verwaltung auf unter Federführung des Gesundheitsamtes einen Runden Tisch einzurichten.

 

Ziel des runden Tisches soll es sein, gemeinsam mit allen relevanten Akteur*innen Hygienekonzepte zu erarbeiten und eine erneute Schließung der Betreuungs- und Bildungseinrichtungen – wie in Gütersloh oder Göttingen geschehen – zu verhindern.

 

Ziel ist es also, Eltern und Kindern nach vier Monaten der Ungewissheit, eine dauerhafte und verlässliche Perspektive für die Dauer der Pandemie zu bieten.

 

Die Zahlen und Fakten für ein solches Konzept liegen uns vor:

 

Wir wissen, wie viele Kinder unsere Krippen, Kindergärten und Schulen besuchen, wir wissen, wie viele Angestellte wir in diesen Einrichtungen haben und wer von Ihnen zur Risikogruppe gehört,

und wir wissen um unsere begrenzten Räumlichkeiten.

 

Nun gilt es diese Komponenten zusammenzubringen und ein schlüssiges Hygienekonzept zu entwickeln, das auch bei steigenden Infektionszahlen in der Region Hannover Schließungen vorbeugt.

 

Und wir wissen auch, der Herbst kommt 

 

Eine zweite Corona-Infektionswelle ist vorstellbar.

 

Wir fordern eine klare Vorgabe für den kommenden Herbst. Wir erwarten ein belastbares Konzept, um Planbarkeit und Verlässlichkeit wiederherzustellen, so dass berufstätige Eltern im Herbst nicht wieder die Arbeit der Lehrenden und Erzieherinnen übernehmen müssen

 

Verkürzt geht es in unserem Antrag um genau zwei Dinge: (1) die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und (2) dem Kindeswohl.

 

Ich werde mich dem ersten Punkt Vereinbarkeit und der Doppelbelastung insbesondere von Frauen, widmen.

Sinja Münzberg wird in ihrem Redebetrag den Blick auf die Pandemie um eine Perspektive erweitern, nämlich die von Kindern.

 

Manche fragen sich vielleicht, das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist doch kein neues Thema. Stimmt!

Schon vor Corona waren diejenigen überlastet und gestresst, die sich unbezahlt um Kinder, Alte und Kranke kümmern, auch auf Kosten ihrer eigenen finanziellen Absicherung. Es war schon vor Corona so, dass nicht ausschließlich, aber doch größtenteils Frauen diese Care-Arbeit gemacht haben. Sie leisten im Schnitt eineinhalbmal mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer.

Wer nun berufstätigen Eltern erklärt, sie können ihre Kinder doch weiterhin im Homeoffice betreuen, hat genau zwei Dinge nicht verstanden: Homeoffice und Kinderbetreuung,

 

Und noch viel schlimmer, eine solche absurde Erklärung entwertet auch die Arbeit von Erzieher*innen und Lehrer*innen.

 

Ich meine, was für eine geringe Wertschätzung geben wir den Fachkräften in den Kindergärten und Schulen, wenn wir sagen, ihre Arbeit können Eltern doch easy neben Erwerbsarbeit und Haushalt übernehmen

 

Barbara Vorsamer schreibt in der Süddeutschen Zeitung in ihren 6 Tipps für die Schule zuhause, deswegen zu recht - ich zitiere verkürzt:

 

„Der ultimative Tipp, wie man Berufstätigkeit und Schulunterricht als Mutter oder Vater wuppt, steht hier nicht. Weil es nicht geht.“

 

Wer betreut also die Kinder in dieser Zeit zu Hause? Wer ersetzt die Lohn- und Gehaltseinbußen (20 Prozent bei einem Tag pro Woche, 50 Prozent bei tageweisem Wechsel laut Modell B des Kultusministeriums)?

 

Fun Fact am Rande: Das Infektionsschutzgesetz, das in der Pandemie Entschädigungsleistungen für Verdienstausfälle durch Kinderbetreuung regelt, erachtet Erwerbsarbeit und parallele Kinderbetreuung im Homeoffice als möglich – unabhängig vom Alter oder der Anzahl der Kinder.

 

Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen,

 

Wir erleben eine Retraditionalisierung bei der Rollenverteilung. Die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie drängen viele Familien gegen ihren Willen in alte Rollenmuster zurück.

 

Die UN Women nannte den Corona Ausnahmezustand eine "Krise der Frauen".

 

Bereits existierende Ungleichheiten werden weiter verschärft.

 

Die Krise wirkt wie ein Brennglas. Die bestehenden Ungleichheiten, die wir sowieso schon in der Gesellschaft haben, sehen wir jetzt nochmal verstärkt.

 

WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch war im Wirtschaftsausschuss und berichtete eindringlich, wie vor allem Frauen ihre Arbeitszeit reduzieren bzw. ganz aufgeben, um dieser Aufgabe nachzukommen.

Sie sind es, die Homeoffice und Homeschooling parallel leisten und den Haushalt stemmen

 

Die Urlaubstage für das gesamte Jahr sind bereits nach sechs Monaten aufgebraucht,

der Anspruch auf zehn Tage Freistellung, wenn das eigene Kind erkrankt ist, ist in den letzten vier Monaten erloschen, Arbeitgeber*innen haben sehr viel Verständnis gezeigt, aber nun müssen sie auch schauen, wie sie ihre Arbeit organisieren.

 

Die Wirtschaft wurde Schritt für Schritt geöffnet, Kitas und Schulen aber nur bedingt.

 

Kinder stehen immer noch unter Generalverdacht und in der Beweispflicht, nun wirklich keine Spreader zu sein. Folge ist, dass Frauen nun wieder normal zur Arbeit gehen müssen, aber ihre Kinder immer noch nicht wie gewohnt betreut werden. Hier hat jemand anscheinend nicht in Zusammenhängen gedacht.

 

Wir erleben was passiert, wenn die hart erkämpfte Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur nicht mehr zur Verfügung steht. Wir fallen zurück in alte Muster. Das Kartenhaus bricht zusammen.

 

Frauen treffen die Folgen der Pandemie besonders hart

und das ist nicht länger hinnehmbar sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen ---- nun sind wir gefragt.

 

In unserem Antrag geht es darum, eine Perspektive zu geben. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleibt auch in der Krise kommunale Aufgabe und damit in unserer Verantwortung ---

 

Und bevor ich zum Ende komme und das Wort anderen erteilt wird, möchte ich Sie noch um eine Sache bitten. Es ist niemandem geholfen, die Verantwortung anderen zuzuweisen und sich im Klein-Klein zu verlieren. Ja, ich bin verdammt sauer auf die Untätigkeit der zuständigen Landesministerien, aber das befreit mich nicht von meiner Verantwortung als Abgeordnete der Regionsversammlung

 

Lasst und stattdessen gemeinsam einen Plan schmieden wie wir Eltern, Kindern und Fachkräften in den Bildungseinrichtungen eine Perspektive bieten können.

 

Eine echte Perspektive, dass sich an der Situation von Familien bald etwas ändert, gibt es nicht.

 

Der neue Leitfaden des Kultusministeriums setzt den Schulbetrieb und Kitaöffnungen in Abhängigkeit von niedrigen Infektionszahlen. Zu hoffen, dass das Infektionsgeschehen ruhig bleibt und einen Regelbetrieb zulässt, vor allem über Herbst und Winter, ist naiv. Eltern im Radio darauf hinzuweisen, sie sollen regelmäßig mit den Kindern Händewaschen üben ist einfach nur frech.

Der Herbst schließt sich an das Ende der Sommerferien an, mit dem Herbst droht die zweite Welle

Eltern müssen bereits jetzt ihre Kinder mit kleinsten Erkältungsanzeichen wie Schnupfen, umgehend abholen und zu Hause betreuen.

 

Die Grenze des Belastbaren ist bei Eltern schon längst überschritten. Wenn das schon so heftig für Eltern ist und sie stark überfordert, wie muss es dann erst für Alleinerziehende sein, davon 90 % Frauen?

 

Familien wurden nicht in die Entscheidungsprozesse in den Blick genommen und werden weiterhin in einen permanenten Zustand von Unsicherheit versetzt.

Der neue Leitfaden des Kultusministeriums ist der erneute Beweis dafür.

 

Liebe Regionsversammlung, und sehr geehrter Regionspräsident, sie haben die Ermächtigung, bei steigenden Infektionszahlen bestimmte Einrichtungen schließen zu lassen. Wer aber Macht hat, der hat auch Verantwortung und diese gilt es jetzt wahrzunehmen.

 

---

 

Danke

 

 

Ansprechperson:

Evrim Camuz, Fraktionsvorsitzende Grüne Regionsfraktion

 

 

 

 

Rede von Sinja Münzberg zum Grünen Antrag "Hygienekonzepte für Kitas und Schulen" (Ant 3442) 

 

 

- ES GILT DAS GESPROCHENE WORT -

 

 

Anrede,

der Lockdown hat nicht nur Eltern stark belastet, sondern auch Kinder. Die meisten Kinder in der Region waren wochen- oder monatelang nicht in der Schule oder der Kita, haben keine Freunde getroffen und ihre Großeltern nicht besucht. Sie waren nicht beim Schwimmtraining oder in der Musikschule. Sie konnten nicht einmal auf dem Spielplatz gehen oder im Park Fußball spielen.

Alle Orte, an denen sich Kinder normalerweise aufhalten, waren geschlossen. Kontakte außerhalb der Kernfamilie nicht möglich. Wichtige Bezugspersonen nicht erreichbar. Was blieb, waren die eigene Wohnung, Eltern und Geschwister. Wenn es gut lief noch ein Garten.

Was der Lockdown mit Kindern gemacht hat, hat das Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf untersucht. Über 70% der befragten Kinder und Jugendlichen fühlen sich durch die Corona-Pandemie seelisch belastet. Sie schlafen schlecht, sind unkonzentriert, haben Kopfschmerzen. Sie bewegen sich weniger, essen mehr Süßigkeiten und verbringen mehr Zeit vor dem Fernseher oder am Smartphone.

Besonders hart trifft Kinder aus ohnehin schon belasteten Familien, Kinder mit Migrationshintergrund oder mit Behinderungen. Sie können erst jetzt – nach viereinhalb Monaten wieder die Förderschulen besuchen.

Die Auswirkungen des Lockdowns auf Kinder und Jugendliche sind von der Politik konsequent unberücksichtigt geblieben. Wie so häufig, denn ihre Perspektive kommt in Entscheidungsgremien in der Regel nicht vor. In der Lockerungsphase hat das zu der absurden Situation geführt, dass Kinder Anfang Juni theoretisch hätten einen Biergarten besuchen können, aber keinen Kindergarten.

Und das, obwohl es bisher keine Hinweise darauf gibt, dass Kinder das Corona-Virus schneller verbreiten als Erwachsene. Im Gegenteil: eine Studie der TU deutet sogar darauf hin, dass sie es langsamer verbreiten.

Trotzdem ist es nicht unwahrscheinlich, dass Schulen und Kitas erneut geschlossen werden. Wie schnell das gehen kann, haben wir kürzlich im Landkreis Gütersloh gesehen. Und auch hier bei uns droht Kindern bereits heute wieder die Isolation, sobald die Nase läuft. In Barsinghausen ist letzte Woche eine ganze Kita geschlossen worden, weil einige Kinder Husten und Schnupfen hatten. Wie bitte soll das erst in der Erkältungszeit werden?

Auch bei den Einrichtungen herrscht große Unsicherheit. Einige fordern bereits bei Erkältungssymptomen einen negativen Corona-Test bevor das Kind wieder kommen darf, andere ein ärztliches Attest. Manche verlangen nur Symptomfreiheit.

Das ist weder für Eltern noch für Kinder eine tragfähige Perspektive.

Es muss zukünftig eine andere Abwägung zwischen Infektionsschutz und dem Recht auf Bildung und Betreuung geben. Dafür braucht es eine gute Vorbereitung und Flexibilität zugleich.

Entscheidend ist, dass Kinder in festen Kleingruppen von der gleichen Bezugsperson betreut werden. Eine Forderung übrigens, über die wir in der Bildungspolitik seit Jahren diskutieren – Stichwort dritte Kraft -, für die das Geld aber noch immer fehlt.

Herr Dr. Yilamz hat im Sozialausschuss auf meine Frage hin geantwortet, dass man jetzt ja nicht alle Kitas neu bauen könne.

Das erwartet auch niemand. Was wir aber erwarten ist, dass sich alle Beteiligten Gedanken machen, wie Bildung und Betreuung in den kommenden Monaten gewährleistet werden können. Nicht mehr und nicht weniger fordern wir in unserem Antrag.

Dafür braucht es gar nicht in erster Linie Geld, sondern zunächst mal Einfallsreichtum und ein paar gute Ideen. Warum nicht Angebote nach draußen verlagern? In den Zoo, den Deister oder das Burgdorfer Holz? Oder mit Containern und Toilettenwagen die Fläche vergrößern? Warum nicht Erzieher*innen in der Ausbildung stärker in den Kita-Alltag einbinden?

Die Corona-Pandemie hat schon viele unkonventionelle Ideen hervorgebracht und ich bin sicher, dass es sich auch im Bildungssystem lohnen kann, mal über den Tellerrand hinaus zu gucken. Das Gesundheitsamt ist aus unserer Sicht die richtige Stelle, um einen solchen Prozess zu moderieren und dabei immer den Infektionsschutz im Blick zu behalten.

 

 

 

Ansprechperson:

Sinja Münzberg, sozial- und wohnungspolitische Sprecherin Grüne Regionsfraktion